Verantwortung übernehmen … das will hier sowieso keiner!
Neulich bin ich auf einen Artikel in meiner Sammlung aufmerksam geworden. Er ist schon von 2018, verfasst von Dr. Christoph Schmitt und trägt den Titel „Lernen braucht keine Disziplin. Es braucht Raum und Gelegenheit.“.
Neben der Auseinandersetzung mit dem Thema Disziplin als Steuerungsgröße von außen gegenüber dem Lernen als intrinsisch gesteuertem Vorgang, beschäftigt sich der Artikel auch mit dem Thema Verantwortung. Besonders spannend finde ich in diesem Kontext die Aussage, dass man Verantwortung eigentlich nicht übertragen kann, weil jeder Mensch per se die Verantwortung für sein eigenes Denken, Tun und Handeln hat. Mit anderen Worten, jeder ist grundsätzlich immer dafür verantwortlich ob er etwas tut oder sagt, oder eben auch nicht. Interessanter Gedanke.
Aber was bedeutet er eigentlich im Kontext von Organisationen im Wandel?
Ich habe irgendwann nicht mehr gezählt, wie oft ich den Satz gehört habe: „Verantwortung delegieren? In die Teams geben? Das geht bei uns nicht! Die meisten Mitarbeiter wollen keine Verantwortung übernehmen. Und sie können es auch nicht!“
Interessant ist auch, dass solche Aussagen quer durch die Hierarchien getätigt werden. Die wahrgenommene Scheu vor Verantwortung scheint also nichts mit Führungspositionen zu tun zu haben, denn auch über Führungskräfte habe ich von den nächst höheren Ebenen Aussagen dieser Art gehört.
Wo kommt diese Sicht der Dinge also her und wie kann man damit umgehen oder sie verändern?
Wenn man davon ausgeht, dass jeder Mensch in der Lage ist, Verantwortung zu übernehmen, was genau kann dann nicht abgegeben oder übertragen werden? Oder ist es vielmehr so, dass mit dem vermeintlichen Übertrag noch etwas anderes einher geht? Vielleicht ein Verlust von Macht und Einflussmöglichkeiten? Und ist die Angst vor diesem Verlust vielleicht vielmehr die hemmende Kraft als die Weigerung der Gegenseite etwas zu übernehmen?
Wenn eine Organisation ihre gewohnten Entscheidungswege verlassen will, denke ich, dass sie gut beraten ist, sich sehr detailliert zu überlegen, wer künftig welche Entscheidungen treffen soll. Möchte sie die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen, anders gestalten, muss darüber gesprochen werden, was sowohl der Gewinn als auch der Verlust dieser Möglichkeit für die Menschen in der Organisation bedeutet. Oftmals gibt es ein dicht verwobenes Netz aus sozialen Interaktionen, die von solchen Veränderungen betroffen sind. Es geht also in der Regel nicht nur um Mensch A, der jetzt eine Entscheidung treffen kann und Mensch B, der für diese Entscheidung nicht mehr zuständig ist. Durch die vielen Beziehungen und Abhängigkeiten in Organisationen lohnt sich vor solchen Veränderungen eine genauere Analyse, um nicht durch unvorhergesehene Reaktionen überrascht zu werden. Es geht also auch darum, sich Zeit für die Veränderung zu nehmen und nichts hopplahopp umzusetzen. Hilfreich ist es sicherlich, mit den Beteiligten in den Dialog zu treten und sich verschiedene Sichtweisen anzuhören. Gerade die (leisen) Kritiker haben oft gute Argumente, die Berücksichtigung finden sollten.
Darüber hinaus ist es aus meiner Sicht wichtig, sich ausführlich darüber auszutauschen, welche Entscheidungen übertragen werden und was die damit verbundenen Erwartungen sind. Das kann sich zum Beispiel auf Ergebniskommunikation, erwartete Dokumentationen oder mögliche Hilfsangebote beziehen. Eine Notiz über die Vereinbarungen ist eine gute Erinnerungsstütze für alle Beteiligten.
Und wenn sich nun trotz eines planvollen, langsamen Vorgehens eine Verlagerung von Entscheidungen schwierig gestaltet?
Dann hat es meiner Meinung nach nichts damit zu tun, dass jemand „keine Verantwortung“ übernehmen will.
Vielleicht ist das Paket noch zu groß.
Vielleicht wurde es auch gar nicht wirklich übergeben.
Oder es ist ein Zeichen dafür, dass es Zeit ist, die Notiz nochmals hervorzuholen und einen neuen Dialog zu starten.
Auf keinen Fall aber sollte es als Ausrede dienen, es nicht weiter zu versuchen. Denn das generelle Absprechen der Fähigkeit oder des Willens Verantwortung zu übernehmen passt für mich nicht zu einem Umgang unter erwachsenen Menschen.
Claudia Heiber
Systemische Organisationsberaterin, Coach und Agile Coach
Sollten Sie eine Veränderung in ihrer Organisation planen oder mitten drinstecken, stehe ich Ihnen jederzeit mit meiner Expertise zur Verbesserung von Zusammenarbeit zur Verfügung. Sprechen Sie mich gerne an!